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Rezensionen von Studierenden der LMU München

Rezensionen
von Studierenden der LMU München
Redaktion – Hannah Hübner und Paula Ruppert

EO
(POL, ITA 2022, Regie: Jerzy Skolimowski)

  • EO, eine polnisch-italienische Koproduktion von Regisseur Jerzy Skolimowski, ist ein beeindruckendes “Roadmovie”, das den Zuschauer auf eine einzigartige Reise mitnimmt. Die Hauptfigur, ein stummer Esel, führt uns mit Würde und Stärke durch die Vielfalt der Landschaften und menschlichen Erfahrungen.
    Die emotionale Geschichte, die durch diesen ungewöhnlichen Protagonisten erzählt wird, ist bewundernswert subtil und zeigt auf, dass echte Gefühle nicht immer verbale Ausdrücke benötigen. Die Filmemacher haben diese Botschaft auf meisterhafte Weise vermittelt und EO zu einer unvergesslichen filmischen Erfahrung gemacht, die auch in Cannes sowohl den Preis der Jury als auch den Preis für die beste Filmmusik gewonnen hat.
    Insgesamt bietet EO eine fesselnde Mischung aus Humor, Gefühl und Abenteuer. Es ist eine berührende Erzählung über Verbundenheit und Mitgefühl, verpackt in einem charmanten Roadmovie, das den Zuschauer sowohl unterhält als auch bewegt.

(Chrisna Lungala)

  • Eine Reise durch die verschiedenen Kulturen, Landschaften und Länder in Europa, und das Ganze mit EO: einem Esel, der mehr Sympathie und Mitleid verdient als viele der Menschen, die in diesem traurigen Film auftauchen. Der Spielfilm des polnischen Regisseurs Jerzy Skolimowski zeigt einen berührenden und tiefergreifenden Ritt durch Europa mit brisanten Akteuren und stets aufregenden, manchmal unter die Haut greifenden Erlebnissen. Ein Roadmovie, der wirklich packend erzählt und viele Probleme unseres Lebens – Entfremdung, Härte und menschlichen Egoismus – durch die Augen eines Esels beobachten lässt.

(Hannah Hübner)

FLOTACIJA
(SRB 2023, Regie: Alesandra Tatić, Eluned Zoë Aiano)

  • Man möchte einfach nur sein Leben leben – aber die Mine, die fast alle Arbeitsplätze stellt, soll verkauft werden, die Wohnung ist angeblich immer noch nicht abbezahlt; alles wird zunehmend schwerer für die Menschen, auch die Drachen werden wegen der zunehmenden Schadstoffbelastung sowie der Abholzung immer weniger. Was vielleicht nach Tragikomödie mit übernatürlichen Elementen klingt, ist Flotacija, ein Dokumentarfilm über eine kleine Bergbaustadt und deren Bewohner im Osten Serbiens. Die Kamera und die Personen dahinter sind ein Teil des Gefüges von Leuten; es entsteht nie der Eindruck, sie würden aufdringlich sein. Angenehm unaufgeregt und nicht reißerisch zeigt Flotacija absolute Originale an Menschen, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Lebensmut nicht verlieren und sich nicht unterkriegen lassen. Unbedingt sehenswert.

(Paula Ruppert)

  • Im Festivalprogramm wurde der serbische Dokumentarfilm Flotacija als „magisch-realistischer Kaleidoskop-Film“ beschrieben, was sehr faszinierend klang. Wie sich herausstellte, ist das magische Element tatsächlich in dem Film vorhanden, aber es liegt wohl nicht in der Geschichte über den Drachen, gegen die die Familie von Dragan und Desa seit Jahrhunderten kämpfe, sondern vielmehr im lebensfrohen Humor, mit dem die Hauptfiguren anscheinend leben. Vor uns liegt nicht nur ein Dokumentarfilm, sondern eine lebensbejahende Komödie, in der die portraitierten Personen scheinbar zu scherzhaft mit den Herausforderungen umgehen und dabei sie selbst bleiben. Wie oft in guten Komödien wird in diesem Film auch die tragische Seite des Lebens deutlich. Die Unumkehrbarkeit des ökologischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs in einer kleinen Stadt in Ostserbien trifft im Film auf bedingungslose Liebe zur Welt und zur Heimat, die von älteren Generationen an die jüngeren weitergegeben wird. Man möchte glauben, dass trotz der Bedrohung, die über der Stadt Majdanpek schwebt, die Bewohner ihren eigenen fröhlichen und unbeschwerten Charakter bewahren und die Familientradition der Drachenjagd den nächsten Generationen weitergeben werden.

(Anna Iukhanova)

FRAGILE MEMORY / Krykhka pam’yat
(UKR 2022, Regie: Igor Ivankov)

  • Der ukrainische Dokumentarfilm Fragile Memory von Igor Ivankov ist ein packendes Familienporträt, dass in die berufliche Vergangenheit des sowjetischen Filmregisseurs Leonid Burlaka eintaucht. Burlakas Enkel, auch ein junger Filmregisseur, entdeckt eines Tages im Schuppen seines Großvaters alte Filmrollen und sucht dadurch nach verlorenen Erinnerungen, da Leonid aufgrund seiner Demenzerkrankung mit Gedächtnisverlust kämpft.
    Fragile Memory lädt dazu ein, über die Vergänglichkeit und Macht von Erinnerungen sowie die Bedeutung von Familie nachzudenken. Gleichzeitig ist es eine Revue über die (Film-)Geschichte der Sowjetunion und der Ukraine. Die persönliche Verbundenheit des Regisseurs Igor Ivankov zu seinem Großvater ist spürbar und verleiht dem Film eine besondere Intimität.

(Diana Raetchi)

  • Die Erinnerungen von Leonid Burlaka verblassen von Tag zu Tag, seine Werke aber strahlen in diesem Dokumentationsfilm seines Enkels heller denn je. Durch nahezu zerstörte Fotorollen taucht Igor Ivanko ab in die 60er und folgt den Spuren seines Großvaters, der als Kameramann in der damaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik an zahlreichen Filmen gearbeitet hat.
    Eine unglaublich persönliche und emotionale Geschichte, die Traurigkeit und Humor gut miteinander verbinden kann. Ohne überdramatisierte Szenen schafft der Film es, Interesse und Verbundenheit mit den Protagonisten zu kreieren. Die verschiedenen Eindrücke um Leonid Burlaka und seine Familie zeigen die Vielschichtigkeit eines Menschen, den historischen Wandel und die Fragilität der Erinnerungen. Ein unvergessliches Porträt eines Großvaters, gedreht von dessen Enkel, der kinematografisch viel von seinem Talent geerbt hat.

(Greta Fink)


GOLIATH
(KAZ 2022, Regie: Adilkhan Yerzhanov)

  • Die kasachische Steppe – blauer Himmel mit einigen Wolken über einem bildfüllenden Nichts. In dieser Abgeschiedenheit liegt das Dorf Karatas, das fest in der Hand des brutalen Gangsterbosses Prohaev ist. Als dieser die Frau des gehbehinderten Arzu erschießt, weil sie seine kriminellen Machenschaften bei der Polizei angezeigt hat, verstößt die Dorfgemeinschaft Arzu mit seiner kleinen Tochter. Sie fürchten, er könne sich an Prohaev rächen und damit das fragile Gleichgewicht des Zusammenlebens zerstören.
    Regisseur Adilkhan Yerzhanov zeichnet in Goliath das Bild einer von Korruption und Unterdrückung beherrschten Gemeinschaft, getragen durch das undurchsichtige Spiel des Hauptdarstellers Berik Aitzhanov. In ruhigen, raumgreifenden Bildern wird die leere Landschaft selbst zum Protagonisten und es bleibt bis zuletzt unklar, ob Arzu auf Rache sinnt oder nur ein kleines Rädchen im Staub der Wüste ist.

(Philipp Thurmaier)

  • Wie der Titel Goliath nahelegt, geht es um klein und klug gegen mächtig und stark. Adilkhan Yerzhanovs Interpretation dieser alten Geschichte spielt im Kasachischen Nichts; ein Witwer möchte den Mord an seiner Frau durch den Gangsterboss, der alles kontrolliert, sühnen. Die Rache ist die Motivation des Protagnisten in seinem Kampf gegen einen Mann, den man lieber nicht gegen sich haben möchte. Der Zuschauer ist sich allerdings bis zum Schluss nicht sicher, auf welcher Seite dieser Protagonist, den man zu Beginn als das Pendant für David identifiziert hat, tatsächlich steht. Die charakterliche Tiefe dieser undurchsichtigen Figur und die Aufnahmen der weiten Leere, die die Abgeschiedenheit dieser Welt mit eigenen Regeln unterstreicht, machen Goliath zu einem absolut lohnenswerten filmischen Werk.

(Paula Ruppert)

GUARDIAN OF THE FRONTIER / Varuh meje
(FRA, SVN, DEU 2002, Regie: Maja Weiss)

  • Drei junge Studentinnen aus Ljubljana verbringen den Sommer damit, den Fluss Kolpa, der die Grenze zwischen Slowenien und Kroatien markiert, hinunterzupaddeln. Sie sind sehr unterschiedlich, von naiv-traditionell zu fortschrittlich-draufgängerisch, und Probleme sind vorprogrammiert. Diese verschärfen sich nur, als deutlich wird, dass ein lokaler Politiker, der sich selbst als Beschützer der Grenze und der alten Normen sieht, den dreien eindeutig zu nahe kommt.
    Sexismus, queere Liebe, männliche Gewalt, Ländergrenzen und Flüchtlinge – der Film überschreitet viele Grenzen und behandelt viele wichtige Themen, die teils sehr gelungen, teils etwas nachlässig aufbereitet werden. Während problematische Narrative, die unsere Zeit beherrschen, gut aufgezeigt werden und offensichtlich wird, weshalb die jungen Frauen so unterschiedliche Vorstellungen vom Leben und speziell von Männern haben, ist die mangelhafte Kommunikation zwischen ihnen teilweise ermüdend, da nur einer der jungen Frauen eine wirkliche Entwicklung ermöglicht wird. Diesen Mangel machen die fantastischen Naturaufnahmen und das Spiel mit Horrormusik an fröhlichen Stellen allerdings beinahe wieder wett.

(Milena Hofmeister)

LA PALISIADA
(UKR 2023, Regie: Philip Sotnychenko)

  • Ein flimmerndes Kamerabild – die Ukraine im Jahr 1996. In einer Zeit des Umbruchs und der Haltlosigkeit versuchen zwei Kriminalbeamte mit fragwürdigen Methoden den Mord an ihrem Vorgesetzten aufzuklären. Immer wieder muss der Verdächtige den Tathergang vor den Beamten rekonstruieren. Dabei wirkt er wie ein schlechter Schauspieler, der seine Rolle nicht zu füllen vermag. Auch die beiden Polizeibeamten scheinen aus ihren Rollen zu fallen. Ihre Arbeitspraktiken und Ansichten entstammen einer anderen Zeit, wirken jedoch fort und übertragen sich auch auf ihre beiden kleinen Söhne.
    Die Kamera oszilliert zwischen den Jahren 1996 und 2021, schneidet unbemerkt zwischen Verhörkamera und dokumentarischer Beobachtung um und fängt die komplexe Choreografie der Schauspieler:innen ein. Philip Sotnychenkos Film La Palisiada steckt voller, manchmal unverständlicher, Simulakren der frühen postsowjetischen Ukraine.

(Philipp Thurmaier)

  • Den Titel La Palisiada würden wohl die wenigsten ihrem Bauchgefühl nach einem ukrainischen Film zuordnen. So rätselhaft wie der Klang dieses Wortes und das Wort selbst ist auch der ganze Film. Es geht um die Todesstrafe, um 1996 sowie das Hier und Jetzt, um Schuld und Schuldzuweisungen, um die Verflechtungen von Geschichte und Schicksalen. Die Verbindungen und Verflechtungen sind oft undurchsichtig, so verschleiert wie manche Kameraeinstellung zu Beginn des Films. Die Kamera spielt mehrere Rollen: mal ist ihr Zeugnis in der Handlung wichtig, mal scheint sie wirklich zu sehen und eine handelnde Figur zu sein, mal ist sie doch außenstehend beobachtend. Teils fast episodenhaft lässt La Palisiada viele Interpretationen zu – eindeutig und klar in seiner Aussage ist dieser Film nicht.

(Paula Ruppert)

LIZA, GO ON! / Iare, Liza!
(GEO, BGR 2022, Regie: Nana Janelidze)

  • Der georgische Film dreht sich um den Krieg in Abchasien 1992–93 und erzählt die Geschichte der Kriegsreporterin Liza. Als junge Journalistin berichtet sie leidenschaftlich über den Krieg in einem georgischen Dorf und wird Zeugin der Ankunft abchasischer Streitkräfte. Ein abchasischer Soldat entscheidet Liza zu retten, obwohl er weiß, dass sie keine Abchasierin ist. Er bringt sie an die georgische Frontlinie und opfert sich an der Grenze, als eine Schießerei beginnt. Zwanzig Jahre später behauptet ein mysteriöser Anrufer, ihr Retter zu sein.
    Der Film verwebt drei Erzählstränge: Lizas Erfahrungen als junge Journalistin, ihr Leben zwei Jahrzehnte später und ein animiertes Segment basierend auf echten Kriegstagebüchern. Während Lizas beide Geschichten wenig beeindrucken, löst das animierte Segment mit seinen realen Berichten starke emotionale Reaktionen aus.
    Der Film behandelt verschiedene Themen wie u.a. konservative Eltern, Tapferkeit, unschuldiges Leiden und das anhaltende Trauma eines Kriegsveteranen. Mit einer Laufzeit von zwei Stunden kämpft der Film jedoch damit, seine Handlungsstränge tief genug zu erkunden. Die fiktionale Erzählung verliert an Reiz, wenn sie realen Kriegserinnerungen gegenübergestellt wird, und wirkt im Vergleich dazu flach. Möglicherweise wäre es sinnvoller gewesen, entweder einen abendfüllenden Film zu drehen, der gezeichnete Tagebucheinträge, Interviews mit echten Menschen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen einbezieht, oder andersrum Geschichten aus realen Tagesbüchern nicht aufzunehmen und die gewonnene Zeit zu nutzen, um die fiktionale Geschichte zu vertiefen.

(Kristina Primbs)

LOVE ISLAND
(HRV, DEU, CHE, BIH 2014, Regie: Jasmila Žbanić)

  • Ehefrau Liliane und Ehemann Grebo sind im All-Inclusive-Urlaub auf der Insel der Liebe, während sie ihr erstes Kind erwarten. Sie sind verliebt, ihre Ehe verläuft harmonisch, bis Lilis geheime Exfreundin auf der Insel auftaucht: Flora. Sowohl Lili als auch ihr Mann fühlen sich zu Flora hingezogen, woraufhin sich ein komplexes Spiel aus Umwerben, Verführen und dem Stehen zu den eigenen Gefühlen entspinnt.
    Die Bezeichnung „Beziehungskomödie“ trifft sehr gut auf den Film zu, dessen Humor und Witze immer wieder für Lacher sorgen, auch wenn einige Stellen überspitzt dargestellt sind und generell einige Elemente um die LGBTQ+-Thematiken des Films nicht allzu ernst genommen werden sollten. Die Schauspieler*innen verkörpern ihre Figuren wunderbar und zeigen auch bezüglich der Mehrsprachigkeit des Films wahres Talent. Nicht alle der gezeigten Szenen scheinen unbedingt nötig zu sein, doch das Publikum erhält dadurch gute Einblicke in die Charaktere – oder zumindest in die von Liliane und Grebo. Ein unterhaltsamer und nicht allzu schwerer Film, der trotz kleinerer Schwachstellen auf jeden Fall sehenswert ist.

(Milena Hofmeister)

  • In Love Island begeben sich Liliane und ihr Ehemann Grebo in ein All-Inclusive-Hotel am Meer, um ihr Liebesleben aufzufrischen und freudig der baldigen Geburt ihres Kindes entgegenzufiebern. Die Beziehung der beiden wird durch Flora, der Exfreundin von Liliane, aufgemischt, da sowohl Grebo als auch Liliane Gefühle für sie verspüren. Der Film zeichnet die dadurch entstehende romantische, turbulente und polyamore Beziehung mit viel Esprit. Die Atmosphäre überzeugt – die Landschaftsaufnahmen sind schön, die Figuren charakterlich spannend und mit Verve umhüllt. An manchen Stellen ist der Love Island ein wenig vorhersehbar, das macht ihn aber nicht weniger sehenswert. Ein Film, der Spaß macht!

(Hannah Hübner)

MOTHERLAND
(SWE, UKR, NOR 2022, Regie: Alexander Mihalkovich, Hanna Badziaka)

  • Svetlanas Sohn ist tot: Laut offiziellen Angaben beging er während seines Militärdienstes in der Belarussischen Armee Suizid. Doch Svetlana kann und will dieser Version nicht glauben – zu oft beschrieb der Sohn in seinen Briefen nach Hause die Misshandlungen und Drangsalierungen von sich und seinen Kameraden durch Ranghöhere und ältere Soldaten.
    Auch für Nikita kommt der befürchtete Einberufungsbefehl. Sein Vater und die Freunde verabschieden ihn am Tor der Kaserne. Kurze Zeit später durchziehen die Proteste um die gefälschte Wiederwahl Aleksander Lukaschenkos das ganze Land. Einheiten von Armee und Polizei gehen brutal gegen Protestierende vor. Plötzlich finden sich Nikita und seine Freunde auf tief verfeindeten Positionen gegenüber: er als Vertreter einer repressiven Staatsmacht, sie als Protestierende für Gerechtigkeit und Demokratie. In Videogesprächen mit Nikita werden essenzielle Fragen aufgeworfen: Wem dient das Militär? Würde er gegen seine Freunde losschlagen, wenn der Befehl käme?
    Die beiden Filmemacher:innen Hanna Badziaka und Alexander Mihalkovich geben mit Motherland einen tiefen und beklemmenden Einblick in das gewalttätige Gefüge der Belarussischen Armee und seiner Rolle in der Erhaltung eines Systems der Unterdrückung.

(Philipp Thurmaier)

  • Der Dokumentarfilm Motherland über die brutale Schikanierung in der belarussischen Armee und im Allgemeinen über die politische Situation im modernen Belarus wirkt besonders schwer. Bemerkenswert war der Regieeinfall, die Geschichte einer Mutter, deren Sohn in der Armee gestorben ist, parallel zur Geschichte des jungen Minskers Nikita zu erzählen, der während der Massenproteste im Sommer 2020 im Dienst war. Der Film ermöglicht es so dem Zuschauer, das politische, militärische und polizeiliche System des Landes aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, sowie auch zu verstehen, wie es funktioniert. Dabei findet man keine befriedigende Antwort auf die Frage Nikitas Freundes, warum sich die Soldaten während der Proteste nicht an die Seite des Volkes stellen, dem sie geschworen haben, oder warum die Soldaten trotz aller Gräueltaten und Willkür in der Armee nicht in den Aufstand gehen. Zu dem Symbol dieses gnadenlosen Systems wird der langjährige Präsident des Landes, Alexander Lukaschenko, dessen Gestalt immer wieder auftaucht, aber sich als entmaterialisiert erweist: Wir hören seine Stimme, sehen Porträts, sowie auch einen TV-Auftritt, der sich im Fensterglas spiegelt, aber niemals ihn selbst. Meiner Meinung nach liegt genau darin der ganze Schrecken der Situation, in der die ganze Nation in Gefangenschaft der grausamen und gleichgültigen Elite ist.

(Anna Iukhanova)

MY LOVE AFFAIR WITH MARRIAGE
(LVA, USA, LUX 2022, Regie: Signe Baumane)

  • In My Love Affair With Marriage nimmt uns die Regisseurin Signe Baumane mit auf eine intime und tiefgreifende Reise durch das Leben einer Frau, die mit den gesellschaftlichen Erwartungen des Frauseins kämpft. Dieser Dokumentarfilm wirft einen einzigartig analytischen Blick auf die Liebe und die dahinterstehenden biochemischen Prozesse, was für eine fesselnde und zugleich erhellende Betrachtung sorgt.
    Ein herausragendes Merkmal dieses Films ist sein ungewöhnlicher Animationsstil. Der Einsatz von handgemachten dreidimensionalen Hintergründen und zweidimensionalen Charakteren, die mit wenigen Bildern pro Sekunde animiert werden, verleiht dem Film einen leicht rohen, aber eindrucksvollen Charakter. Dieser Stil betont die Emotionen und die Intensität der Erzählung, ohne vom Geschehen abzulenken.
    Eine weitere Stärke des Films ist die nahtlose Integration der Musik. Durch ihre Musical-artige Art und Weise, das Geschehen zu kommentieren, bringt sie einen erfrischenden Schwung in die teils triste Geschichte und sorgt für ein rundes, kohärentes Erlebnis.

(Chrisna Lungala)

  • Der Animationsfilm beschreibt Zelma, wie sie von sieben Jahren auf 28 heranwächst, sich entwickelt, von Ideen, wie ein Mädchen und später eine Frau zu sein hat, beeinflusst wird, sich verliebt, zweimal heiratet und mehrfach von der Liebe enttäuscht wird. Immer wieder steht sie auf, macht neue Pläne und kann zum Schluss des Filmes verstehen, dass es in Ordnung ist, nicht den Vorstellungen anderer zu entsprechen und sich für gewisse Dinge wie die Ehe Zeit zu lassen.
    Die große Zeitspanne, die der Film abdeckt, sorgt für viel Inhalt, der auch verarbeitet werden muss. Gleichzeitig erlaubt sie aber, dass deutlich wird, inwiefern Zelma von Normen der sowjetischen Gesellschaft beeinflusst wird. Der Animationsstil ist sehr erfrischend und hilft, Zelmas Gefühle und Gedanke teils fast überzogen nachvollziehbar darzustellen. Immer wieder wird erklärt, was auf biologischer Ebene passiert, wenn Zelma sich beispielsweise verliebt – ein Detail, das sowohl lustig und charmant ist, aber auch den Anspruch, alles könnte sich auf die Biologie zurückführen lassen, zu verbreiten scheint. Der Soundtrack macht den Film insgesamt unterhaltsamer und ermöglicht es noch einmal, Kerninhalte nachdrücklich zu transportieren. Ein wichtiger feministischer Film, der zeigt, dass wir alle menschlich sind und es vollkommen in Ordnung ist, gerade beim Erwachsenwerden Fehler zu machen.

(Milena Hofmeister)

NOT A THING / Veszélyes lehet a fagyi
(HUN 2022, Regie: Fanni Szilágyi)

  • Der Film handelt von eineiigen Zwillingen, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebensstile voneinander entfernt haben. Adèl arbeitet viel als Ärztin und lebt in bescheidenen Verhältnissen, Èva hat reich geheiratet und kümmert sich nun um Haushalt und Baby. Als Adèl eine Stelle in Norwegen erhält und sich auf den Umzug vorbereitet, kommt zwischen ihr und Èva einiges hervor, was lange verborgen geblieben ist.
    Der Film gibt geschickt Einblicke in das Leben beider Schwestern, wobei er mit der Frage spielt, ob Realität objektiv wahrnehmbar ist oder ob die ‚Wahrheit‘ nicht doch auf der persönlichen Wahrnehmung beruht. Durch die Figuren der beiden Schwestern wird gezeigt, wie unterschiedlich Leben, Lebensvorstellungen und Probleme sein können – denn kein Leben ist perfekt. Die Darstellungsart, bei der zunächst Adèl, später Èva im Vordergrund steht, erlaubt dem Publikum, tief in das Leben und die Persönlichkeiten der einzelnen Schwestern einzusteigen. Ein emotionaler Film, der sich auf eine angenehme Art mit wichtigen Themen auseinandersetzt.

(Milena Hofmeister)

ORANGE VESTS / Oranżevye żilety
(BLR, DEU 1993, Regie: Yury Khashevatsky)

  • Der Film befasst sich mit den Geschichten von Frauen in Sibirien, Tschernobyl, Vilnius, Minsk, Moskau und Usbekistan. Er schildert die Härten, mit denen sowjetische Frauen konfrontiert waren, darunter Arbeitsbedingungen, unhygienische Einrichtungen, hohe Kindersterblichkeit, Kinderarbeit, Diskriminierung in der Politik und die Qualen der Mütter von Soldaten.
    Dieser kompromisslose Dokumentarfilm aus den 1990er Jahren zeigt rohe Realität ohne Zensur und lässt den Zuschauer mit seiner Ehrlichkeit überwältigt zurück. Obwohl sich der Film auf mehrere Schauplätze und Themen konzentriert, verwebt er diese Elemente geschickt zu einer zusammenhängenden Erzählung und vermittelt eine klare Botschaft. Seine Wirkung ist tiefgreifend: Der Film bietet ein ehrliches und mitfühlendes Verständnis von menschlichem Leid und Aufopferung.

(Kristina Primbs)

PARADE / Paradas
(LTU 2022, Regie: Titas Laucius)

  • Parade ist eine strahlende Komödie von Titas Laucius, die eine kirchliche Scheidung in ein absurdes und unglaublich unterhaltsames Gerichtsverfahren verwandelt. Mitten im Chaos dieses komödiantischen Szenarios entfaltet sich eine tiefgründige Geschichte von mütterlicher Liebe, persönlichem Wachstum und wiederentdeckter Zuneigung.
    Miglès, die Hauptfigur, ist eine Frau voller Komplexität und Charme. Ihre Entwicklung während des Films, von einem Zustand der Unzufriedenheit hin zu einer Akzeptanz ihrer Tochter und ihren eigenen Interessen, wird auf berührende Weise dargestellt. Und während dieser chaotischen Scheidung verliebt sie sich langsam wieder in ihren Ex-Mann – eine zusätzliche Ebene der Komplexität, die der Geschichte ein weiteres Element der Komik und Emotionalität verleiht. Durch eine unerwartete Wendung zeigt auf bewegende Weise die menschliche Fähigkeit, Liebe und Respekt zu bewahren, ohne notwendigerweise eine romantische Beziehung fortzusetzen.
    Die Schauspielkunst ist ein besonderes Highlight des Films. Die Schauspieler vermitteln die Komik und Emotionalität der Situation hervorragend, was den Film noch unterhaltsamer und menschlicher macht.

(Chrisna Lungala)

POLISH PRAYERS
(CHE, POL 2022, Regie: Hanka Nobis)

  • Antek ritzt mit seinem Messer ein Kreuz in einen Baumstamm: „Wer spricht das Gebet?“, fragt er. Anschließend falten er und die anderen Angehörigen der selbsternannten Bruderschaft die Hände um den Rosenkranz. Aufgewachsen in einer streng katholischen Familie sieht Antek die konservativen und religiösen Werte Polens in Gefahr und agitiert mit seinen Glaubensbrüdern auf Anti-Pride-Demos gegen den Verfall des Vaterlandes.
    Vier Jahre lang begleitete die Filmemacherin Hanka Nobis Antek auf Demos, Kirchenbesuchen und christlichen Abenden. In Polish Prayers wird die Zerrissenheit und Ziellosigkeit des Protagonisten sichtbar, dessen anfangs so gefestigte Weltsicht immer mehr zu bröckeln beginnt. Leider kippen manche Momente durch einen starken Musikgebrauch in eine Überästhetisierung der Bilder – eine Emotionalisierung, die ihren Protagonisten und seine intensive Geschichte manchmal der Nähe der Zuschauenden entrücken.

(Philipp Thurmaier)

SEE YOU IN CHECHNYA
(DEU, GEO, EST, FRA 2016, Regie: Alex Kvatashidze)

  • Kann man sich je von Krieg lossagen, wenn man ihn einmal erlebt hat? Diese Frage steht über dem Dokumentarfilm See you in Chechnya, der mit Video sowie vielen Photographien von den Eindrücken und Erlebnissen des Regisseurs im Tschetschenienkrieg, aber auch von Krieg und seinen Folgen erzählt. Wie kommt man dazu, Fotos von einem Krieg zu machen? Was macht es mit einem, wenn man Kriegsreporter werden will? Was passiert, wenn man tatsächlich Kriegsreporter wird? Die Antwort darauf versucht der Film zu finden. Die gezeigten Bilder sind nah an den Menschen dran, eindrücklich, brutal, gehen unter die Haut. Gerade zu Beginn ist der Film stark. Auch wenn er nach hinten hin einige Längen entwickelt, ist er definitiv sehenswert. Die Fragen, die er stellt, sind gerade in einer Zeit, in der alles mit dem Handy dokumentiert wird, wichtig; die Antworten, die im Film erklingen, regen zum Nachdenken an.

(Paula Ruppert)

THE UNCLE / Stric
(HRV, SRB 2022, Regie: David Kapac, Andrija Mardešić)

  • Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest sind in vollem Gange: der Tisch ist gedeckt, der Baum geschmückt. Eine kroatische Familie nimmt vor ihrem Haus Aufstellung: die Mutter, der Vater und der erwachsene Sohn. Im schweren Mercedes Benz fährt schließlich der Onkel aus Deutschland vor. Alles könnte perfekt sein, doch die Kekse waren zu lang im Ofen und der Truthahn zu kurz. Die ganze Familie agiert entrückt, etwas zu euphorisch und verschoben. Mit der Zeit wird klar, dass The Uncle mitnichten einem heilen Familienfest folgt, sondern einer klaustrophobischen Version von Täglich grüßt das Murmeltier. Der Onkel entpuppt sich dabei als Psychopath, der die Familie dazu zwingt, immer wieder für ein perfektes Weihnachtsfest für ihn aufzuführen, um die von ihm entführte Tochter zurückzubekommen.
    Leider verfliegt der Grusel der Situation mit jeder Wiederholung immer mehr und die Handlung verkommt zu einer Spirale unnötiger Obszönitäten. Zum großen Finale des Filmes ist man schließlich froh dem endlosen Fest endlich entronnen zu sein – manchmal ist weniger mehr, oder um kinematografisch zu bleiben: ein Kurzfilm hätte es wohl auch getan.

(Philipp Thurmaier)

  • Mutter, Vater und Sohn heißen ihren Onkel zu einem absurden Weihnachtsfest willkommen – und das jeden Tag, denn der ‚Onkel‘ hat die Tochter der Familie in seiner Gewalt und wird sie – in seinen Worten – nur nach einem perfekten Weihnachtsfest wieder freigeben. Die Familie befindet sich somit in einer scheinbar aussichtslosen Situation, die auch das Verhältnis der einzelnen Personen zueinander auf die Probe stellt.
    Die Kameraführung verleiht dem Film ein besonderes Ambiente und trägt zum Gefühl des unbehaglichen Kammerspiels bei. Die oft ungewohnten Einstellungen und Ausschnitte passen zu dem Leben der Familie, in dem nicht viel in Ordnung ist, sie zeigen die Zersplitterung und das Gefühl, dass alles falsch ist. Das Publikum erfährt erst nach und nach, was eigentlich vor sich geht, die bedrohliche Situation, in der die Familie sich befindet, wird mit jedem Tag, mit jedem Fest, deutlicher. Die Anspannung der Charaktere überträgt sich auch auf das Publikum, das den Zerfall der Personen, ihre psychische Belastung, die Misshandlung und die ständige Anwesenheit eines Gewehres mitbekommt und für die Figuren keinen Ausweg sieht. Es gibt nur wenige Szenen, in denen man scheinbar aufatmen kann – die Bedrohung ist andauernd präsent und auch das Ende des Films sorgt nur teilweise für Erleichterung.

(Milena Hofmeister)

TRAIL OF THE BEAST / Trag divljači
(SRB 2022, Regie: Nenad Pavlović)

  • Belgrad Ende der 70er Jahre: Der Journalist Jugoslav Bucilo wird in eine Kleinstadt in der serbischen Grenzregion geschickt, um über den mysteriösen Suizid eines Professors zu schreiben. Immer mehr offenbart sich in der Kleinstadt ein Geflecht aus Mord, Intrigen und Geheimdienstverstrickungen.
    Regisseur Nenad Pavlović greift in seinem Debüt-Spielfilm auf mehrere Romane seines Vaters Zivojin Zika Pavlovič zurück und kreiert so eine schillernde und abgründige Geschichte mit Anklängen an das Neo-Noir. Ein Abgesang auf die vordergründig schillernde Ära des Tito, deren Fassade nur mit Mühe von den Geheimdiensten aufrechterhalten wird.

(Philipp Thurmaier)

  • Jugoslawien, 1979. Ein Journalist samt Schnauzer und knallorangener Jacke untersucht einen brutalen Mord. Dabei macht er sich Polizei und Geheimdienst zum Feind – die Zuschauenden gewinnt er währenddessen als Fans. Etwas tollpatschig und uninformiert verwickelt sich Journalist Jugoslav in eine Familienfehde, in brutale Machtspiele und wird letztendlich über den anstehenden Fall einer ganzen Nation aufgeklärt, alles sehr überfordernd für den Helden in Trail of the Beast.
    In 1 Stunde und 45 Minuten wird auf der Leinwand eine ganze Welt aufgebaut, in die die Zuschauenden gänzlich eintauchen. Vor allem durch die tolle Farbwahl, eine kinematographische Bestleistung, kann der Film genossen werden und ist für jeden Ästhetik-Enthusiasten ein Vergnügen. Mit subtilem Humor werden auch düstere Szenen nicht allzu schockierend und sorgen dafür, dass man nach dem Film zufrieden und mit einem Wunsch nach mehr den Kinosaal verlässt.
    Und wer weiß, womöglich gibt es noch Teil 2 oder sogar Teil 3!

(Greta Fink)

WE WILL NOT FADE AWAY / My ne zgasnemo
(UKR, FRA, POL 2023, Regie: Alisa Kovalenko)

  • Ruslan und Andriy liegen an einem kleinen Badeweiher: eine idyllische Szene im Sommer, Szenen einer Jugend auf dem Land. Doch über den grünen Baumwipfeln und hinter Hügeln steigen dunkle Rauchwolken auf, die Front ist ganz nah. Andriy, Illia, Lera, Ruslan und Liza wachsen nicht in irgendeinem Dorf auf, sondern mitten im Donbass, als Kinder eines seit Jahren dauernden, blutigen Krieges. Auch wenn sie versuchen die Bedrohung zu ignorieren, ihren Hobbies nachzugehen – Fotografieren, an Mopeds schrauben, Texte schreiben –, die Gegenwart holt die Jugendlichen immer wieder ein.
    Filmemacherin Alisa Kovalenko drehte über Jahre mit ihren Protagonist:innen, erwarb so ihr Vertrauen und erzählt ihre Geschichten mit einer großen Nähe und Einfühlsamkeit. Zentrales Thema ist eine von offiziellen ukrainischen Stellen organisierte Himalayareise für Kinder aus dem Kriegsgebiet. Leider verblassen wegen der Präsenz dieser Reise die zarten Situationen zwischen den Protagonist:innen und der Film wird mehr und mehr zu einer propagandistischen Promotionstour.

(Philipp Thurmaier)

  • Auch wenn sie einem Kriegsgebiet aufwachsen, haben junge Leute Träume und können sie verwirklichen, wenn sie nur fest genug daran glauben und sich für ihre Wünsche einsetzen. Der Dokumentarfilm We will not fade away zeigt das Leben einer Gruppe Jugendlicher im Donbass, deren Alltag der Krieg ist und die davon träumen, die Welt zu sehen. Der Film ist dabei immer nah bei seinen Protagonisten und deren Leben, in dem der Krieg ununterbrochen im Hintergrund ist. Jede und jeder hat ein eigenes Ziel und sowie Traum, ins Himalaya zu fahren. Der Film ist oft erstaunlich hell und licht gestaltet, was jedoch nicht verhindert, dass die Thematik und die Geschichten dieser jungen Leute tief berühren. Zwischendrin verliert er sich ein bisschen und zieht sich zwar; er schafft jedoch die Erinnerung an einen Ort und eine Zeit, die es nicht mehr gibt.

(Paula Ruppert)

WHOSE DOG AM I? / Ki kutyája vagyok én?
(HUN, ROU 2022, Regie: Róbert Lakatos)

  • Whose Dog Am I von Regisseur Robert Lakatos ist ein fesselnder Film, der die Liebe zu Hunden, kulturelle Identität und politische Konflikte erforscht. Lakatos beleuchtet auf humorvolle und satirische Weise die Spannungen zwischen der ungarischen Minderheit und der rumänischen Mehrheit in Siebenbürgen. Der Regisseur selbst steht im Mittelpunkt des Films und ist von dem Wunsch besessen, seinen geliebten ungarischen Kuvasz-Hund Talpas zu reproduzieren. Er glaubt, dass die nationale Identität eines Menschen an der Rasse seines Hundes ablesbar ist, und startet ein Zuchtprogramm für den siebenbürgischen ungarischen Hirtenhund.
    Der Film nutzt die Begegnungen zwischen verschiedenen Hunderassen und ihren Züchtern als Metapher für den politischen Konflikt in Siebenbürgen. Lakatos verbindet geschickt die Welt der Hunde mit gesellschaftlichen Spannungen und bietet eine einzigartige Perspektive auf kulturelle Anerkennung und Autonomiebestrebungen. Die Regie hält die Balance zwischen Satire und herzlichen Momenten und schafft Verbindungen zwischen den Figuren und ihren hündischen Begleitern. Die witzigen und intelligenten Dialoge des Films verleihen der Geschichte Tiefe und regen den Zuschauer dazu an, über Themen wie Identität, Zugehörigkeit und kulturelles Erbe nachzudenken.

(Kristina Primbs)

Filme von Jasmila Žbanić
(BiH, 1997–2013)

  • In drei verschiedenen Werken, zwei Kurzfilmen und einem Langfilm, fesselt Jasmila Žbanić aus Bosnien und Herzegowina das Publikum und lässt es sprachlos, verletzt und weinend zurück. Die Kurzfilme After, After (1997) und Red Rubber Boots (2000), die als Vorschau des Abendspielfilms fungieren, markieren den Anfang Žbanić‘s Karriere und sind Dokumentationen über die Folgen des Bosnienkriegs. Eindrücke des Schulalltags, knappe Interviews mit Kindern zeigen die Traumatisierung und bleibenden Schäden, die die Besatzung zurücklässt. Bei der Durchsuchung von Massengräbern scheut Žbanić sich nicht davor, unzensiertes Material zu zeigen. Die rohe Realität starrt einem von der Leinwand entgegen, krallt sich fest und lässt nicht los. Die kurzen Pausen zwischen den Filmen, die gut moderiert wurden, gaben manchen Zuschauenden die Zeit, neue Taschentücher zu besorgen.
    Der Langfilm To those who can tell no tales (Za one koji ne mogu da govore; 2013), das einzige fiktionale Werk dieses Nachmittags, nimmt mit auf die Reise nach Visegrád, wo eine australische Touristin die Spielorte des Buchs Die Brücke über Drina besucht. Nach positiven Erlebnissen im Hotel, in der Stadt und auf der Brücke stellt sie fest, dass all diese Plätze Orte des Verbrechens sind: Das Hotel der Massenvergewaltigung von Bosniakinnen, die Brücke der öffentlichen Hinrichtungen – die Stadt ist geprägt von Genoziden.
    Ein Film, der in Erinnerungen ruft, dass die Orte der Verbrechen nicht einfach von der Weltkarte verschwinden.

(Greta Fink)

Pannonia Shortfilm Programme 1

  • In eine teils sehr farbenfrohe Welt voller gern auch assoziativer Bilder und Formen entführte das erste Pannonia Kurzfilmprogramm. Die Bandbreite der sechs ungarischen Animationsfilme reichte von einem circa zweiminütigen tragikomischen Stück über einen Häftling bis hin zu einer nur etwas über zehnminütigen, doch sehr eindrücklichen Schnellfassung von Krieg und Frieden vor dem Hintergrund von Tschaikovskijs 1812-Ouverture. Jeden Film zeichnet eine originelle Art aus, ebenso originelle Geschichten zu erzählen. Das persönliche Highlight: Ten Grams of Immortality, der anhand eines kleinen, geflügelten Pferdes davon erzählt, wie eine Abweichung von der Norm dazu führen kann, dass man nirgends dazugehört – und genau diese Normabweichung für jemand anderen vielleicht der ersuchte Ausweg sein kann.

(Paula Ruppert)

Rheinmain Shortfilm Award

  • Sieben völlig unterschiedliche Kurzfilme aus Regionen postsowjetischer Länder, die von ethnischen Minderheiten bewohnt sind, konkurrierten um den diesjährigen RheinMain Kurzfilmpreis. Dabei gibt es dokumentarische und fiktionale Beiträge, die unterschiedlichste Aspekte beleuchten: zum Beispiel den verschwindenden Aralsee und wie er die Leute zurücklässt (Aralkum), verschiedene Ethnien in Kirgisistan (Neither on the Mountain nor in the Field) oder das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, der es in der konservativen Dorfgesellschaft schwer hat (Tale). Diese Filme mögen vielleicht keine Meisterwerke sein, doch sie zeigen absolut das Potential der Filmemacher. Das Konzept von Khayt, einem in der Zukunft angesiedelten vermeintlichen Dokumentarfilm, ist wohl Geschmackssache; No Nation Without Culture, der autobiographisch beeinflusst den Tschetschenienkrieg behandelt, bleibt vor allem wegen der überaus schlechten Tontechnik im Gedächtnis. Besonders positiv hervor taten sich jedoch u.a. wegen seiner Figuren Aital, der Betrug, Wirkung und Glaube an Schamanentum thematisiert sowie Exultation, der vor allem durch seine hervorragende Kamera besticht.

(Paula Ruppert)