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Ukraine und die Frage der Identiät

Bereits am ersten Tag in Mykolajiv, waren wir eingeladen in die Schwarzmeeruniversität bei Professor Aleksandr Viktorovič Pronkevič. Ein sehr netter Zeitgenosse; immer witzig, eine unüberhörbar laute und sehr nette Stimme, lachend und Spaß machend, so lernten wir ihn schon im engen kleinen Reisebus auf der Fahrt von Kiev nach Mykolajiv besser kennen. Eine Studentin führte uns durch die Unigänge in eine Bibliothek im Souterrain. Eine witzige Bibliotheksdame hinter der Theke begrüßte uns und wir nahmen an den viel zu eng gestellten Plastik-Arbeitstischen Platz.

Als Pronkevič erschien, hatte er sofort alle für sich gewonnen. Gut gelaunt frug er, ob wir im Hotel warmes Wasser hätten und baute nebenbei anekdotenerzählend seine klapprige Beamer-Wand und den Projektor auf.
Der herzliche Professor sprach in seinem Vortrag „Mapping Ukrainian National Identity“ im Bibliotheks-Keller der Schwarzmeeruni an diesem regnerischen Morgen über das spannende Thema Identität. Dabei bezog er sich auf anerkannte soziologische Theorien, viel mehr überzeugte aber seine offene Art und seine Bereitschaft persönliche Erfahrungen und Sichtweisen in einem Univortrag auszusprechen und in Beziehung zu setzen. Diese persönlichen Stellungnahmen überraschten sehr - hört man doch an der LMU äußerst selten mal einen Professor seine direkte und ungefiltert eigene Meinung aussprechen.

„What is going on in our country?“ diese saloppe Frage stellte er an den Anfang seines „honest talk“ und bezeichnete die jetzige Situation der Ukraine als einen radikalen wie tragischen Transformationsprozess seines Landes. Pronkevič lebt seit Mitte der 90er Jahre in der Ukraine. Geboren wurde er im hohen russischen Norden, sein Vater ist aus Vladivostok. Wie selbstverständlich spricht er dabei von sich als Ukrainer. Er identifiziert sich mit dem Land, mit der Nation. Die ukrainische Sprache musste er als Fremdsprache lernen - begann damit erst im Alter von 32 Jahren. Was sich an diesem Beispiel zeigt und was ein wichtiges Anliegen des Vortrags war: Identität ist eine abstrakte Größe, die jeder Mensch in letzter Instanz für sich individuell und persönlich definiert. Identifikation mit einer Kultur, muss nicht durch Familie oder andere nationale Prägung vorgegeben sein. Trotzdem ist der Nationen-Begriff ein wichtiger Aspekt, im Finden oder immer wieder Neufinden der eigenen (nationalen) Identität. Im Nationenbildungsprozess bilden kulturelle Güter wichtige Parameter; wie die Literatur, insbesondere National-Epen oder ab dem 20.Jahrhundert das Kino. In einem anderen Rahmen hörten wir noch genaueres über den ukrainischen Filmemacher Aleksandr Dovzhenko, der den Mythos Ukraine in den 30er und 40er Jahren mittels des neuen Mediums Film wesentlich mitgeprägt hat.

Außerdem wies der Professor noch auf die streitige Frage des Territoriums hin, welches von politischer und völkerrechtlicher Seite häufig als Nationenbildungsinstrument fungiert, wobei Landesgrenzen künstlich erbaut seien. Trotzdem bezeichnet der Professor die Tatsache, dass die Krim seit 2014 zu Russland gehört, als gewaltvolles Entreißen von russischer Seite und als einen schweren Verlust für die Ukraine als Nation. Nach einem Ausflug in die jüngere (sowjetische) Geschichte der Ukraine und ein paar zynischen Worten über die Führungsriege der Oligarchen und die Unterscheidung von Saat und Nation, fasst er zusammen: Beide Aspekte, Identität und Nation sind bewegliche Komponenten, es gibt für sie keine einheitliche immer feststehende Definition. Jeder Mensch persönlich, aber auch jede Community definiert für sich Identität immer wieder neu, aber auch von einer ideologisch von oben kommenden Riege wesentlich und machtvoll beeinflusst werden können.

Pronkevics persönliches Statement zu dem komplexen Thema Identität der Ukraine, regte jeden in unserer Gruppe unwillkürlich zum Nachdenken über seine eigene Identität an. Die Beobachtungen führten unwillkürlich zu Fragen der eigenen Kultur zurück. Was ist Deutschland, was ist die Ukraine? Ist Sprache ein Mittel der Identitätsbildung? Was ist in der schwierigen deutschen Vergangenheit, aber auch vor dem Hintergrund der föderalistischen Struktur unseres Landes überhaupt ein Nationenbildungsmoment?

Im Laufe dieser Woche waren für mich die Symbole auf der Straße ein Schlüssel, um mir das komplexe Thema Identität der Ukraine zumindest ein Stück weit zu erschließen. Prokevič wies auf sein neues Forschungsgebiet „Kitsch“ hin, und statierte Souvenirs seien ein Mittel, um sich die Identifikation eines Landes über die Massenproduktion zu erschließen. Hierbei traf man, gerade in den Städten Odessa und Kiev auf für unser deutsches Auge verstörende Bilder: Schimpfwörter auf Klopapierrollen mit Putin-Foto darauf. Überhaupt nationale Symbole. Die Landesfarben überall.

Text: Camilla Lopez