Slavische Philologie - Slavistik
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Ukraine: Mai 2009

Einmal und gerne wieder: Unsere Exkursionen in die Ukraine

„Was, Du fährst in die Ukraine? Ist da nicht alles radioaktiv verseucht von Tschernobyl? Kommen da nicht die Zwangsprostituierten her?“ – Auf solche Fragen musste man sich einstellen, wenn man sein privates Umfeld informierte, wohin man im Rahmen einer Studienexkursion Ende Mai für eine Woche aufbrechen würde. Immerhin muss man heute, im Gegensatz zurzeit vor der Orangenen Revolution, nicht mehr gar so langwierig erklären, wo denn die „Ukraine“ – das Land „am Rand“ oder „im Land“ einer der Hypothesen nach – liegt. Am Rande des Interesses zahlreicher Slavistik-Studenten lag dieses Land definitiv nicht: Schon 2007 durften wir im Rahmen unserer Polen/Ukraine - Exkursion den westlichen Landesteil Galizien mit dem berühmten L’viv/Lwów Lemberg kennenlernen.

2009 war nun die Ukraine von Kyïv/Kiev bis nach Odesa/Odessa dran auf einer Reisestrecke mit über 600 km.

Kyïv, die „Stadt der goldenen Kuppeln“, lernten wir gleich am ersten Tag kennen. Neben der berühmten Sophienkathedrale besichtigten und besuchten wir auch das Michaelskloster und die „Lavra“ - das weltbekannte Höhlenkloster. Von der mittelalterlichen Kiever Rus‘ arbeiteten wir uns quasi auf einem Zeitstrahl drei Tage lang vorwärts und konnten uns dabei alle überzeugen, dass Michail Bulgakov mit seinem berühmten „Keine Stadt in der Welt ist schöner als Kiev“ wohl recht hatte. Am vierten Tag folgte ein Tagesausflug nach Perejaslav-Chmel’nyckyj – einer der ältesten fürstlichen Hauptstädte der Kiever Rus‘, den legendären Ort, an dem der Kosakenführer Hetman Bohdan Chmel’nyckyj 1648 einen Koalitionsvertrag mit Moskau schloss, der lange – und für so manche vielleicht bis heute – als Beginn der „unverbrüchlichen“ Freundschaft zwischen Russland und der Ukraine galt. Diese kleine ukrainische Stadt bietet 27 Museen an und darunter auch das einmalige und unvergessliche Freilichtmuseum für die Volksarchitektur und Tradition der Ukrainer vom Altertum mit Exponaten aus der Skytenzeit bis in das 20. Jahrhundert.

Dank der klugen Planung unserer Exkursionsleiter Frau Dr. Olena Novikova und Herrn Prof. Ulrich Schweier blieb trotz der straffen Besichtigungsagenda genug Zeit, sich auch in privater Atmosphäre auszutauschen. So schwelgen viele Teilnehmer auch heute noch gern in Erinnerungen an unvergessliche Festlichkeiten am Tag der Stadt Kyïv mit der singenden, tanzenden, spielenden, strahlenden und mit Kastanien eingerahmten blühenden Hauptstraße der Stadt Chreszhatyk/ Kreschtschatik und auch an unser romantisches Picknick am Dnipro/Dnepr-Ufer in der Nähe des Wohnbezirks Obolon‘ beim Sonnenuntergang über goldenen Kuppeln von Kyïv.

Den „radioaktiven Teil der Ukraine“ konnte ein Teil unserer Gruppe am fünften Tag der Exkursion kennenlernen, als wir die Sperrzone um den havarierten Atomreaktor von Čornobyl‘ besuchten. Viele in der Gruppe hatten sich lange mit dieser Katastrophe beschäftigt und so mussten sich die örtlichen, von staatlicher Seite zur Verfügung gestellten Fremdenführer und Dolmetscher einige kritische Nachfragen gefallen lassen. Zweifellos hat die schwierige Situation der Menschen vorort und in den belasteten Nachbargebieten niemanden unter den Exkursionsteilnehmern unberührt gelassen. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, durch die Geisterstadt Prypajt zu spazieren und im ehemaligen Hotel über einen Boden bedeckt mit Zeitungen und Büchern zu gehen, um von der Rückseite des Gebäudes auf das verlassene Riesenrad blicken zu können, das sich noch am Tag der Evakuierung drehte. Nach diesem traurigen „Spaziergang“ gab es noch ein gemeinsames Essen mit - wie immer wieder betont wurde - Produkten aus Kiew. Nachdem wir alle mit einem Strahlenmessgerät kontrolliert wurden, das aber bei allen - чи́сто - bescheinigte, machten wir uns auf den Heimweg nach Kiew, auf dem die Diskussion über den Umgang mit der Katastrophe erst richtig entflammte.

Die Berichte über die historischen Schauplätze, Monumente und Museen der Stadt Kyïv, mit denen die Čornobyl‘-Besucher tags darauf vom anderen Teil der Reisegruppe versorgt wurden, waren sehr spannend und informativ, erschienen jenen aber geradezu als erfreuliche Ablenkung.

Unsere Zeit in Kyïv und in der Kyïvkska oblast‘ neigte sich dem Ende entgegen und über Uman’ mit dem Aufenthalt dort und einer Führung durch den märchenhaften Nationalpark „Sofiivka“ – einem der Kunstwerke von Graf Potozkij, brachte uns unser Reisebus zur Perle am Schwarzen Meer – nach Odesa. Während unseres Aufenthaltes kamen insbesondere jene, die sich der russischen Literaturwissenschaft widmen wollten, voll auf ihre Kosten. Aber auch das jüdische Odesa, das durch die fortschreitende jüdische Emigration mit der Zeit an Bedeutung verlor, lernten wir kennen. Davon, dass die Stadt eine Kulturmetropole ist, konnten wir uns im neu restaurierten wunderschönen Opernhaus mit „Iolanta“ von P.I. Tschaikovskij selbst ein Bild machen. Leider konnten wir nicht – wie geplant – die Oper mit angemessenen Kleidern würdigen. Der Bus war verspätet...

Flankiert wurde unser Aufenthalt mit der Besichtigung einer alten Festung in der Nähe von Odesa, von Strandbesuchen in der Freizeit, einer Bootsfahrt und abendlichem Flanieren auf den Promenaden der Stadt.

Was für einen faszinierenden Völkermix das Gebiet um Odesa bietet, wurde uns erneut bewusst, als wir das deutsche Dorf Peterstal besuchten. Die Siedlung liegt etwas über fünfzig Kilometer von Odesa entfernt und wurde für deutschstämmige Übersiedler aus Zentralasien erbaut. Peterstal hat etwa 150 Einwohner, die uns einen herzlichen Empfang bereiteten und so viel Essen auftrugen, dass sich die Tischplatten bogen. Neben Deutsch hörten wir oft auch das von vielen Teilnehmern fröhlich angewandte „Exkursionsslavisch“ (ein „Mix“ aller slavischen Sprachen). Wir verlebten einen famosen Abend, an dem wir erzählten, aßen und sangen, was das Zeug hielt. Es war wunderschön und zum Abschied stahl sich tatsächlich das eine oder andere Tränchen hervor. Nochmals vielen Dank an die Bewohner von Peterstal! Und überhaupt an пані Новікова oder auch пані Олена (beide Anredeformen sind in der Ukraine verbreitet - das haben wir während unserer Reise gelernt, sowie das Eine oder Andere auf Ukrainisch, temperamentvolle ukrainische Lieder oder auch Rezepte der ukrainischen Nationalküche), die uns mit so viel Enthusiasmus ihre Heimat gezeigt hat und jegliche Schwierigkeiten und kleine Problemen löste, damit wir unseren Aufenthalt in der Ukraine richtig genießen konnten.

Wir kennen kaum Leute, die nur einmal in der Ukraine waren. Viele kehren immer wieder zurück, ein wunderschönes Land, das „süchtig“ macht. Auf baldiges Wiedersehen, Ukraine!