Slavische Philologie - Slavistik
print

Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Gespräch über Geschlechterrollen in der Ukraine

Ukrainische Frauen sind in jungen Jahren vor allem mit der Suche eines potenziellen Ehegatten beschäftigt, deutsche Frauen auf sich selbst fokussiert und karriereorientiert – oder nicht? In Deutschland ist auch in modernen Zeiten immer wieder zu beobachten, wie weit derartige Vorstellungen über die Geschlechterrollen in der Ukraine und innerhalb der eigenen Gesellschaft verbreitet sind. Im Rahmen von Frau Grafs Vortrag über Gender und die Kategorisierung nach dem sozialen Geschlecht befragte ich zwei ukrainische Männer und ging der Gender-Thematik etwas genauer auf den Grund. „Ich sehe mich in fünf Jahren in Deutschland, Australien oder Kanada, das kann ich sicher sagen. Was die Karriere oder die Familienplanung angeht bin ich mir noch nicht sicher: einerseits ist es wichtig, Geld zu verdienen und sich die Miete für eine Wohnung bezahlen zu können. Aber auch die Familie ist wichtig und damit meine ich nicht meine Eltern, sondern dass man sich eine eigene Familie aufbaut“ sagt Bogdan, der aktuell im Fach Rechtsübersetzungen an der Taras-Schevtschenko- Universität in Kiew promoviert und bereits mehrere Aufenthalte in Deutschland verbrachte. Wie sieht es mit den Frauen aus, gibt es tatsächlich spürbare Unterschiede zwischen deutschen und ukrainischen Frauen? Laut Bogdan schon: „Deutsche Frauen sind unabhängiger. Natürlich gibt es auch bei mir an der Uni Mädels, die sehr karriereorientiert sind und ihre eigenen Ziele verfolgen, aber die machen nicht den größten Teil aus. Tatsächlich sind viele Studentinnen hier vor allem auf der Suche nach einem geeigneten Mann und wollen möglichst bald heiraten.“ Diese Tatsache fand ich persönlich sehr interessant – als deutsche Studentin hatte ich selbst immer den genau gegenteiligen Eindruck, ukrainische junge Frauen seien unabhängiger und in vielen Lebensdingen selbstsicherer als meine Landesfrauen.

Einen konkreten Blick auf die Situation in seinem eigenen Land hat auch Sascha, Ü30 und in der Medienbranche tätig. „Vielleicht trifft das auf alle europäischen Frauen zu, aber als ich in Deutschland war ist mir aufgefallen, dass die Frauen dort andere Prioritäten haben als bei uns. Vorrangig wollen unsere Frauen heiraten, was es für mich als Mann sehr schwierig macht. Das ist in ländlichen Gegenden noch viel drastischer als hier in Kiew. Sobald du auf die 25 zugehst ist des immer dasselbe, wenn du eine Frau kennenlernst: sie will dich heiraten.“ Mit Ende Zwanzig immer noch unverheiratet zu sein und nicht in baldiger Zukunft eine Ehe anzustreben, ist in der Ukraine demnach ein gesellschaftliches Problem. Der Druck, möglichst mit im Alter von 25 verheiratet zu sein, um nicht für „merkwürdig“ gehalten zu werden oder Freunde und Familie spekulieren zu lassen, dass „etwas mit dir nicht stimmt“, ist auch in jüngeren Generationen enorm. „Das wird dann als Katastrophe für die gesamte Familie gesehen“, so Sascha. Darin sieht er auch den maßgeblichen Unterschied in Hinblick auf die Geschlechterrollen in Europa und der Ukraine: „Vor allem für die Generation, die jetzt um die 40, 45 Jahre alt ist, war das in ihren jungen Jahren ein großes Problem: eine unverheiratete Frau hatte es wirklich schwer. In unserer Generation um die 30 hat sich die Situation immerhin schon etwas gelockert, aber mit 30 unverheiratet zu sein erscheint den meisten immer noch unnormal.“ Diese Haltung wird begünstigt - so deutet es Sascha - durch die weiterhin verbreitete Annahme innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, man solle bis zum Alter von 30 Kinder haben, da es ansonsten gefährlich und gesundheitsschädlich sein. „Deshalb heiraten viele eben einfach ihren aktuellen Partner, damit die Familie und alle anderen beruhigt sind und man diesen erstrebten Status erreicht hat, auch wenn es oftmals nicht aus Liebe ist.“

Nach dieser spannenden Diskussion wird einem deutschen Mitt-Zwanziger plötzlich klar, wie gut es uns innerhalb unserer Gesellschaft geht: Denn wir können und dürfen eigentlich selbst entscheiden, wie, wo und mit wem wir unsere Zukunft verbringen wollen. Dennoch sollte von Seite einer Studentin, die aus einer ländlichen Gegend kommt, gesagt sein: Auch bei uns herrschen z.T. noch ähnliche Einstellungen. Der Glaube, solche vermutlich eher konservative und veraltete Verhaltensweisen seien auf die Ukraine beschränkt ist eindeutig falsch. Gerade in den eher dünn besiedelten, provinziellen Gegenden, z.B. in meiner Heimat Baden-Württemberg, heiraten viele bereits mit Anfang 20 und haben oftmals keine weiteren Lebensziele als unmittelbar nach dem Abitur oder Ausbildungsende sesshaft zu werden und mit Mitte 20 eine eigene Familie zu haben. So lässt diese Tatsache deutlich werden, dass stereotype Annahmen aus dem Gender-Bereich wie auch aus allen anderen Bereichen mit Vorsicht zu betrachten sind: oftmals sind die Gemeinsamkeiten zweier Gesellschaften doch größer, als auf den ersten Blick vermutet wird!

Text: Ramona Anke Nickl